Virtuelle Realität und Cybersickness – der Mensch als Nadelöhr (Beitrag zum Scienceblogs Schreibwettbewerb)

Dieser Artikel ist als Beitrag zum Scienceblogs-Blogwettbewerb auf Florian Freistetters Astrodicticum Simplex erschienen (hier). Bis zum 15.10.2015 kann für die Lieblingsartikel gevotet werden. Es gibt spannende Artikel aus allen Bereichen der Wissenschaft, also schaut mal rein: Astrodicticum Simplex.

Virtuelle Realität. Kaum ein anderer Begriff ist derart in der Lage, Assoziationen an Science-Fiction, Zukunft und je nach Gemüt u- oder dystopische Gesellschaftsszenarien zu wecken. Doch was genau meinen wir, wenn wir über virtuelle Realität (VR) sprechen?

VR lässt sich sowohl durch die computergenerierten Inhalte, die Eindrücke und Bilder, die eine virtuelle Umgebung darstellen, definieren, als auch durch die Geräte, die zum Erleben der Umgebung nötig sind [1]. Diese werden auch als „VR-devices“, bezeichnet, aber oft gemeint, wenn von VR die Rede ist. Im Folgenden soll VR als Technologie verstanden werden, die die direkte Schnittstelle zwischen Nutzern und den virtuellen Welten bildet. Solche Schnittstellen können wie beim CAVE-System [2] ganze Räume sein, die über Projektionen und Steuerelemente den Eindruck vermitteln, sich in einer anderen Umgebung zu befinden. Auch die inzwischen alltägliche Kombination aus Monitor und Controller ist genaugenommen eine solche Schnittstelle. Die zur Zeit größte mediale Aufmerksamkeit erhalten VR-Brillen, die sogenannten Head-mounted Displays (HMDs). Diese wurden bereits 1968 als  „Head Mounted Three-Dimensional Display“ vorgestellt [3] und werden seither zu Trainingszwecken [4], für wahrnehmungspsychologische Grundlagenforschung [5] oder auch zur Therapie von Phobien [6] eingesetzt. Für die breite Bevölkerung hingegen werden sie dadurch attraktiv, dass modernere Versionen sich auch für Videospiele und andere Unterhaltungsmedien verwenden lassen.

Nicht wenige sitzen derzeit mit funkelnden Augen vor dem PC und stellen fest, dass seit Kindheitstagen herbeigesehnte Technologien nun käuflich für den Heimgebrauch zu erwerben [7] oder zu erbasteln [8] sind. Die Aussicht, sich mit einem bisher unerreichten Freiheitsgefühl in und auf die virtuelle Schlacht/Rennstrecke/Hundezuchtfarm zu stürzen, lässt die Investition als eine gute Idee erscheinen. Bereits die noch nicht als fertige Kundenversion konzipierten Entwickler-Versionen zogen eine Welle von begeisterten, aber auch herzerwärmenden [9] und teilweise fragwürdigen [10] Anwendungszwecken und entsprechenden Reaktionen nach sich. Die Anzahl der für verschiedene HMDs verfügbaren Spiele steigt stetig. Beste Voraussetzungen also, die Kreditkarte zu zücken und sich ein Spiel der Wahl sowie ein wenig Zeit zum Testen zu verschaffen. Dem Rückzug ins persönliche Holodeck und dem ungetrübten Genuss desselben steht also nichts mehr im Wege. Oder doch?

holodream

Folgen wir Alice, einer begeisterten Spielerin von Ego-Shootern und Rennspielen am PC. Aufgeregt und voller Vorfreude zieht sie sich ihr neues HMD über den Kopf, stellt die Fixationsgurte etwas enger für einen festen Sitz und stürzt sich ins Spiel. Ihr erster Eindruck ist überwältigend. Sie kann sich durch ihre Kopfbewegung umschauen und sogar ein Hervorlugen hinter Ecken wird durch die Bewegungserfassung ermöglicht. Gleichzeitig merkt sie aber auch, wie sie ihre Augen etwas anstrengen muss, um alles wie gewohnt zu fixieren. Sie wirft eine Granate zum gegnerischen Team und ist beeindruckt von der Explosion und den Lichteffekten. Als sie zur nächsten Deckung sprintet, bemerkt sie, wie ihr etwas Unwohl wird. Sie schiebt es auf ihre Aufregung und hockt sich hinter eine kleine Mauer. In der Ferne sieht sie einen Kampfjet stehen, den sie als Missionsziel erreichen muss. Zehn Minuten und ein paar weitere Gefechte später steigt sie an Bord, drückt auf den Startknopf und kommt in den Genuss eines Geschwindigkeitsrausches, als der Jet beschleunigt und sie in Richtung Sicherheit bringt. Jetzt merkt sie, dass ihr inzwischen stark übel ist und beschließt, eine Pause zu machen. Als sie das HMD abnimmt, bemerkt sie den dünnen Schweißfilm auf ihren Händen und im Gesicht. Desorientiert legt sie das HMD zur Seite und fragt sich, was mit ihr los ist.

VRcs

Was ist hier passiert? Nicht alle können ihre neue VR-Brille uneingeschränkt genießen. Übelkeit, Schwindel, trockener Mund und feuchte Hände stellen sich der Fortführung der aktuellen Quest in den Weg und angestrengte Augen verhindern die Wertschätzung der detailliert erstellten Grafikelemente. Der erwartete Entspannungseffekt stellt sich nicht ein; auch nach Abnahme der Brille bleibt eine dezente Übelkeit und leichter Schwindel bestehen, bis nach etwas Ruhe und ein paar Minuten bis Stunden der Normalzustand wieder hergestellt ist.

Das Phänomen, das die fiktive und nun vermutlich enttäuschte VR-Novizin erlebt hat, nennt sich Cybersickness (CS). CS ist eng verwandt mit den Konzepten der Motionsickness und Simulator Sickness [11]. Motionsickness ist die forschungshistorisch ursprünglichste Form und den meisten Menschen unter der urlaubsfreudentrübenden Reisekrankheit bekannt. Motionsickness entsteht durch einen Informationskonflikt: während beispielsweise bei Autofahrten Beschleunigungskräfte auf den eigenen Körper wirken, signalisiert das im Innenohr befindliche Gleichgewichtsorgan dem Gehirn „Körper in Ruhe“. Sobald man aus dem Fenster blickt und die Umgebung vorbeirauschen sieht, verringert sich der Konflikt und zumindest die visuelle Wahrnehmung sagt jetzt ebenfalls „Jop, wir bewegen uns. 2:1, Gleichgewichtsorgan!“. Hierdurch kann Motionsickness oft gemindert werden, während beispielsweise Lesen und Fokussierung auf stationäre Objekte im Auto sie verschlimmern können.

motionsKlein

Bei der Simulator Sickness ist der Fall genau entgegengesetzt gelagert: hier meldet das visuelle System „alles in Bewegung!“, während sowohl Gleichgewichtsorgan als auch die Wahrnehmung der Körperposition und -lage einhellig für einen aktuellen Stillstand votieren. Simulator Sickness tritt beispielsweise in Flugsimulatoren auf, während des Videospielens oder bei 3D-Filmen. Hierbei scheint entgegen zur Linderung der Motionsickness durch Hinwendung zu bewegten Reizen die Fixierung von unbewegten Objekten in der Umgebung zu helfen [11].

Was ist nun der Unterschied zur Cybersickness? Cybersickness basiert auf dem gleichen Prinzip des Informationskonflikts wie die Simulator Sickness, umfasst aber noch zusätzliche Aspekte, die sich auf die technische Umsetzung und die Darstellung der virtuellen Inhalte beziehen. CS ist kurz gefasst Simulator Sickness + Beeinträchtigung des Befindens durch zusätzliche technische und inhaltliche Störfaktoren [11].

csschema

Und hier setzt das Problem der übelkeitsgeplagten Alice an: vielleicht gab es eine kurze Verzögerung (Latenz) zwischen ihrer Kopfbewegung und der Anpassung der dargestellten Position in der virtuellen Umgebung. Möglicherweise beeinträchtigte das hochfrequente Flackern eines Grafikelements, eine zu niedrige Auflösung oder eine zu schnelle Abfolge von visuellen Reizen ihr Erlebnis. Eventuell hat sie auch ein ambitionierter Gamedesigner mit seiner Jetstartsimulation durch zu schnelle passiv erlebte und nicht selbst steuerbare Bewegung ins Reich der stundenlangen Übelkeit katapultiert. Die Rotation des Charakters und der nicht individuell eingestellte Linsenabstand am HMD haben ihr dann den Rest gegeben.

Was nach einem Katastrophenszenario schlecht gestalteter Spielinhalte und suboptimaler technischer Umsetzung klingt, ist nicht immer vermeidbar. Hinsichtlich der technischen Umsetzung versuchen Herstellerfirmen ihre Produkte zu optimieren und die Latenzen so gering wie möglich zu halten. Die möglichen Auflösungen erhöhen sich stetig. Auf inhaltlicher Seite gibt es inzwischen Guidelines, die bei der Erstellung von VR-Spielen das Risiko zur CS senken sollen [12, 13]. Dies ist effektiv, limitiert aber auch die Möglichkeiten. Schöner wäre es natürlich, wenn es überhaupt keine CS gäbe. Warum wird manch einem nach einer kleinen Runde mit einem HMD überhaupt so blümerant zumute?

Was auf der Symptomebene passiert, wenn jemand cybersick wird, ist umfänglich beschrieben [14]. Auch individuelle Faktoren, die das Auftreten von CS fördern, wie beispielsweise Alter, Geschlecht oder auch die aktuelle Phase im Menstruationszyklus, werden erforscht [11]. Noch nicht ganz geklärt ist jedoch, warum der menschliche Körper auf die oben beschriebenen Informationskonflikte überhaupt mit Übelkeit, Schwindel und co reagiert. Eine mögliche Erklärung ist die Vergiftungshypothese. Hierbei soll die Diskrepanz zwischen eigener und wahrgenommener Bewegung vom Gehirn als Symptom einer potentiellen Vergiftung interpretiert werden, wodurch der Notfallplan „Erbrechen und Übelkeit“, inklusive verbundener Symptome wie Schwitzen und Blässe eingeleitet wird [11,14]. Diese Annahme erklärt jedoch nur einen Teil der Symptome. Anhaltende Desorientierung, Ermüdung der Augen und vor allem die Dauer der Nachwirkung der VR-Erfahrung scheint eher in der ungewohnten Darbietungsform und der Anstrengung durch die Fokussierungsleistung begründet zu liegen. Auch in der langanhaltenden Fortsetzung der Symptome unterscheiden sich Cyber- und Simulator Sickness tendenziell von herkömmlicher Reiseübelkeit [15], so dass es sich um verschiedene Grundmechanismen zu handeln scheint. Bekannt ist der konkrete Prozess somit nur in Teilen. Bis nähere Erkenntnisse vorliegen, ist also zunächst Symptombekämpfung das Mittel der Wahl.

Was kann man auf individueller Seite gegen CS tun? Medikamentöse Lösungen werden zwar, analog zu Reiseübelkeitsmedikamenten, erforscht, sind aber erstens nicht in allen Fällen zuverlässig wirksam [16] und zweitens eher auf Personen ausgerichtet, für die ein VR-Training beruflich nötig ist. Für den Alltagsgebrauch ist die generelle Bereitschaft, neben Cola und Pizza zur Spielesession noch die Übelkeitsmedikamente bereitzustellen sicher aus gutem Grund eher gering. Andere Ansätze wie systematische Gewöhnung, die Konzentration auf die eigene Kontrolle der Situation (ähnlich wie die Empfehlung als Beifahrer, sich eigenes Fahren vorzustellen) und Suggestion („Ich werde Spaß haben und es wird mir gut gehen“) werden vorgeschlagen, stehen aber auch noch zur Forschung [11].

sickness

Langfristig stehen Head Mounted VR-Displays also vor einem kritischen Punkt: um nicht nur auf dem Markt anzukommen, sondern die Zukunftstechnologie zu werden, die uns allen unser lang ersehntes Holo-refugium ermöglicht, muss das Problem der Cybersickness überwunden werden. Hier ist die Entwicklung an einen Punkt angelangt, an dem ein vermuteter biologischer Vorteil zu einem technologischen Nachteil geworden ist. Der Mensch, der sich diese Technologie zum eigenen Gebrauch konzipiert, läuft Gefahr, sich letzten Endes selbst durch die eigene Biologie ein Hindernis zu sein. Es wird sich zeigen, ob der „Nachteil“ der menschlichen Veranlagung dazu über Technologie ausgeglichen werden kann. Denkbar ist es. Denkbar ist aber auch, dass der Mensch der limitierende Faktor bleibt, an dem sich unsere Vorstellung der Zukunft vom tatsächlich nicht nur Mach- sondern auch Erlebbaren scheidet.

Birgt omnipräsente VR die Gefahr verschwindender zwischenmenschlicher Kommunikation  [17]? Oder hat sie das Potential, uns einander näher zu bringen Empathie zu fördern und Grenzen zwischen Individuen zu verwischen [18]? Welche Anwendungsgebiete werden sich auftun? Ist VR gekommen um zu bleiben, oder eine vorübergehende Erscheinung?

Die Zukunft dieser Fragen wird sich erst mit der Etablierung von HMDs als Massentechnologie entscheiden. Die Bekämpfung von CS ist dabei eines der größten Hindernisse auf dem Weg an eine breite Öffentlichkeit. Es bleibt abzuwarten, ob und wie sich die Zukunft der VR am Nadelöhr Mensch entscheidet.

[1] http://www.merriam-webster.com/dictionary/virtualreality

[2] CAVE automatic virtual environment. http://www.visbox.com/products/cave/

[3] Sutherland, I.E. (1968). A Head-Mounted Three-Dimensional Display. In: Proceedings of the December 9-11, 1968, fall joint computer conference, part I.

[4] Baumann, J., (n.d.) Military Applications of Virtual Reality. http://www.hitl.washington.edu/projects/knowledge_base/virtual-worlds/EVE/II.G.Military.html

[5] Lin, Q., Xie, X., Erdemir, A., Narasimham, G., McNamara, T.P., Rieser, J., & Bodenheimer, B. (2011). Egocentric Distance Perception in Real and HMD-based Virtual Environments: the Effects of Limited Scanning Method. Proceedings of the 8th Symposium on Applied Perception in Graphics and Visualization, APGV 2011, Toulouse, France, August 27-28, 2011 DOI: 10.1145/2077451.2077465

[6] Botella, C., Banos, R.M., Villa, H., Perpina, C., & Garcia-Palacios, A.G. (2000). Virtual reality in the treatment of claustrophobic fear: A controlled, multiple-baseline design. Behavior Therapy, 31(3), 583-595.

[7] https://www.oculus.com/en-us/

[8] https://www.google.com/get/cardboard/

[9] „My 90 year old grandmother tries the Oculus Rift“ https://www.youtube.com/watch?v=pAC5SeNH8jw

[10] „Disunion Guillotine Simulator (Oculus Rift).“ https://www.youtube.com/watch?v=N8zkbl6mKXE

[11] Burdea, G.C., & Coiffet, P. (2003). Virtual Reality Technology (Vol 1). Wiley & Sons.

[12] http://www.google.com/design/spec-vr/designing-for-google-cardboard/physiological-considerations.html

[13] https://developer.oculus.com/documentation/intro-vr/latest/concepts/bp_intro/

[14] LaViola, J.J.Jr. (2000). A Discussion of Cybersickness in Virtual Environments. SIGCHI Bulletin, 32(1), 47-59.

[15] Baltzley, D.R., Kennedy, R.S., Berbaum, K.S., et al., (1989). The time course of postflight simulator sickness symptoms. Aviation, Space, and Environmental Medicine, 60(11), 1043-1048. http://europepmc.org/abstract/med/2818393

[16] Yates, B.J., Miller, A.D., & Lucot, J.B., (1998). Physiological basis and pharmacology of motion sickness: an update. Brain Research Bulletin, 47(5), 395-406.

[17] http://www.elon.edu/e-web/predictions/expertsurveys/2006survey/virtualreality.xhtml

[18] http://www.themachinetobeanother.org/

Ein Kommentar

  1. Sehr guter Artikel. Bei der Nutzung Virtueller Realität sollte das Innenohr ebenfalls in die virtuelle Realität involviert werden, hier wäre vielleicht eine Technologie vonnöten, die zu einer Übereinstimmung zwischen Gleichgewichtssinn und Sehsinn beiträgt, also muss auch das Gleichgewichtssinn so getäuscht werden, dass man den Eindruck hat, mit seinem Körper vollständig in der virtuellen Realität zu sein, also auch mit dem Innenohr. Die Cybersickness beweist, dass das Innenohr noch immer in der analogen Realität ist!!!

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